Straßenmusik in Istanbul ist ein Erlebnis für sich. Schon oft waren wir auf unserer Reise bereits mit neuen Orten und Eindrücken konfrontiert worden – nirgends sonst war der (musikalische) Unterschied zwischen den Kulturen aber so deutlich bemerkbar wie in der Türkei. Schlenderte man sonst zu westlichen Pop-Schlagern durch die Gassen, schallten uns in Istanbul aus allen Richtungen osteuropäisch-orientalisch Klänge auf ungewohnten Instrumenten entgegen. Allen voran – und hunderte Meter weit hörbar: Die Darbuka, eine türkische Trommel, die beinahe jede Straßenmusikgruppe begleitet.
Eine skeptische Vorstellung wuchs in uns: Sollten unsere westlich orientierten Stücke von Bob Dylan und The Baseballs hier überhaupt Anklang finden?
Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt: Und so suchten wir uns an einem Samstagvormittag in der prall gefüllten Einkaufsstraße einen Spot zwischen Derwisch-Tänzer und Akkordeongang* und versuchten unser Glück.
Ein merkwüdiges Gefühl, als einzige Musiker mit „Westlichem“ Musikstil inmitten dieses morgenländisch, orientalisch geprägten Kulturtrubels aufzutreten.
Ich stocke. Wie schon so viele Male zuvor ist auch dieser Auftritt erneut eine kleine Überwindung, ein Heraustreten aus der ‚comfort zone‘. Auch nach dem mittlerweile fast siebzigsten Auftritt erfordert es trotzem jedesmal den Mut, dieses kleine Stück Straße nun für mich und meine Musik zu beanspruchen. Doch der Lohn für jedes Wirken ist die Souveränität die man gewinnt, die Rückmeldung der Menschen, die stehenbleiben. Und auch dieses mal passiert genau das. Schnell bildet sich eine kleine Traube um uns, die Menschen wippen im Rhythmus der Musik mit, anderen streicht im vorbeigehen ein Lächeln übers Gesicht.
Ein kleines Schlaglicht: Jedes Lächeln, jedes Innehalten, jede noch so kleine Reaktion auf unsere Musik gibt mir die Zuversicht. Ich grase mit meinem Blick vorbeilaufende Passanten nach diesen kleinen Zeichen der Rückmeldung ab. Bleibt jemand stehen, macht mein Herz einen kleinen Freudensprung – die Ambition überträgt sich schlagartig auf die Musik, was noch mehr nach außen wirkt und noch mehr Aufmerksamkeit und - man könnte fast sagen -„positive Energie, die sich auf die Passanten überträgt“ und wieder zurückbrandet – eine Aufwärtsspirale. Umgekehrt gibt es Auftritte, da scheint niemand Notiz von uns zu nehmen. Meine Blicke wandern immer verzweifelter von einem teilnahmslosen Gesicht zum nächsten, der Mut schwindet und mit ihm die Lust, weiterzuspielen. Ein Teufelskreis, das aufgesetzte Lächeln fühlt sich falsch an, ich habe den Eindruck, jede Reaktion als spöttisch, bemitleidend oder naserümpfend zu interpretieren. Was mir sonst wahre Energieschübe bringt, raubt mir nun jeden Elan. Jede*r Zuhörer*in, der/die sich wieder aufmacht, weiterzugehen, lässt den Mut sinken. Wenn von den anfangs zwanzig Menschen um uns herum am Ende des Liedes nur noch ein paar übrig sind (das Publikum kommt in Wellen!), zweifelt man direkt an der Wahl der Stücke. Aber zum Glück gibt es da Anna, an der ich mich orientieren kann und die mir als Vorbild dient, das Geschehen um mich herum zu vergessen und nur die Musik in den Fokus zu holen. Und zum Glück gibt es Kinder, die – auch wenn sie noch so energisch von ihren Eltern weitergezogen oder im Kinderwagen weitergeschoben werden – ihre kindliche Faszination noch nicht verloren haben und auch noch fünfzig Meter weiter mit offenen Mündern ihre Köpfe verrenken. Und schon ein einiziger begeisterter Zuhörer wie sie lässt all die negativen Gefühle schlagartig verrauchen. Ich hefte mich mit meinen Blicken an diese Person, ziehe Motivation und Elan aus der Begeisterung meines Gegenübers. Und ich starte erneut energetisch in den nächsten Song.
So viele Menschen wie in keinem anderen Land zuvor zücken in Istanbul ihre Kameras, machen Videos, sprechen uns an, finden unsere Social-Media-Accounts und werden unsere Follower, damit sie Kontakt zu uns aufnehmen können, um uns ihre Bilder und Videos von uns schicken zu können. Wir fühlen uns wohl, gewinnen mit jedem Lied mehr Sicherheit. Auch wenn mir doch der Gedanke durch den Kopf schießt, ob ein regierungskritisches ‚Gimme Hope Jo‘anna‘ und Bob Dylans ‚The Times They Are A-changing‘-Protestsong wohl als Unmutäußerung an Erdogans Staatspolitik aufgefasst werden könnte - aber egal, wer genug Englisch versteht, um mit den Liedtexten etwas anfangen zu können, gehört idR eh eher zum aufgeschlossenen Part der türkischen Gesellschaft :P
Unterbrechen müssen wir unser Spiel nur, wenn der Muezzin ruft – darauf werden wir von dem Straßenreiniger hingewiesen, der uns gerade zugehört hatte. Ansonsten kann in dieser Stadt, in diesem Land straßenmusiktechnisch eigentlich jeder machen, was er will. Noch spät nachts, nun beim Flanieren ohne Instrumente durch die Einkaufsstraße und auf dem Weg zu einem Geburtstag, auf den wir eingeladen wurden, sind die Trommler aktiv (völlig undenkbar in Deutschland) und Hand in Hand tanzen vorallem junge Männer zu den morgenländischen Gesängen und Trommeln.
Angeregt durch unsere ersten Straßenmusik-Erlebnisse eine Woche früher versuchen wir es am darauffolgenden Wochenende gleich noch einmal. Aber diesmal haben wir kein Glück:
Gleich zweimal werden wir übertönt von einer Trommel, die unser Spielen jäh unterbricht weil sich andere Musiker unverfroren in mehr als deutlicher Hörweite zu uns platzieren und ungeniert das Spielen beginnen. Wir müssen uns infolgedessen also gleich zweimal einen neuen Spielort suchen. (Der Klügere gibt nach – oder in diesem Fall schlichtweg derjenige, mit den leiseren Instrumenten – wir.) An drei weiteren Orten werden wir ebenfalls weitergeschickt, einmal berechtigterweise von einem Sicherheitsmann, nachdem wir eine Eingangszone zu einem scheinbar wichtigen Gebäude übersehen hatten, ein ander Mal, weil „angeblich“ an dem Spot den wir uns herausgesucht hatten gleich noch eine laute Live-Band das spielen beginnen würde (vielleicht wollte die Person den Platz aber nur für andere Musiker freihalten, wer weiß), einmal, weil es doch tatsächlich auch hier in Istanbul eine Art Ordnungsamt gibt, das es nicht möchte, wenn man in der Nähe einer Sehenswürdigkeit spielt. Ein weiteres Mal überraschte uns zu lauter Verkehrslärm, den wir anfangs nur für Lieferverkehr gehalten hatten und erst am Nachmittag gelingt uns ein erstes vollständiges Set. Beim Weiterziehen begegnen wir auch heute wieder der Akkordeon-Mafia, die fast dein Drittel der knapp zwei Kilometer langen Einkaufsstraße für sich beansprucht.* Und erneut fallen uns immer wieder andere Musiker ins Spiel und zwingen uns, den Platz zu wechseln – mal unabsichtlich, weil wir vielleicht wirklich schlecht zu hören sind, mal dreist-unverhohlen, weil sie sich scheinbar mehr betitelt fühlen, hier mit lauten Instrumenten ihre Bühne zu beanspruchen. Dem interkulturellem Trubel und dem Neulingsstatus in der Stadt geschuldet suchen wir uns im Laufe des Tages mehr als neun mal einen neuen Spielort. Und haben einfach kein Glück. Jedes Umziehen ist anstrengend, weil es eine mentale Auseinandersetzung mit einem neuen Ort bedarf – sehr zehrend. Genervt, platt und ausgelaugt geistern wir die Einkaufsstraße auf und ab, versuchen immer wieder, vielleicht doch noch ins Spielen zu kommen. Erst am frühen Abend werden wir, nachdem wir endlich einen ruhigen, ungestörten Platz ganz am Ende der breiten Einkaufsstraße ausgemacht hatten mit einem grandiosen Abschlussset belohnt – und sammeln dabei sogar eine kleine crowd aus 20-30 Zuhörern um uns, die mit leuchtenden Augen unseren Variante von ‚Umbrella‘ und ‚Galway Girl‘ lauschen.
Die warme Abendsonne versinkt während des Auftritts hinter den Häuserecken und während ein letztes Mal die Straßenbahn an uns vorbeirattert, beenden wir an diesem Tag mit ‚Wagon Wheel‘ unser Set und schlendern erschöpft, aber zufrieden zu unserem Bus zurück.**
* Leider gibt es auch unter Straßenmusikern nicht wenige schwarze Schafe: Neben Berufs-Straßenmusikern, die uns, den allgemein gültigen Kodex ignorierend (zB zu Nachbarmusikern Abstand zu halten oder regelmäßig den Ort zu wechseln), schon einige Male mit deutlich lauteren Instrumenten vom Platz vertrieben haben, findet man allzu häufig auch professionelle Bettler, die in Instrumenten (in erster Linie: Akkordeons) weniger die Kunst, als das „Instrument“ (höhö) zum Geldverdienen sehen.
Und so trifft man oft auf ganze Familien, die teilweise sogar ihre Kinder miteinbeziehen und sie mit kleineren Varianten der Instrumente ausstatten, sobald sie diese halten können. (Ob sie diese nun spielen können, sei dahingestellt.) Und die dann ein- und dasselbe Lied (hauptsächlich „Bella Ciao“) oder eine Akkordfolge in Dauerschleife herunterleiern. Stundenlang, am selben Ort und sieben Tage die Woche – mit wenig Emotion oder Begeisterung (wie könnte es bei diesem 24/7-Job auch anders sein). Kaum auffallend für Passanten, aber natürlich sehr zum Leidwesen der Anwohner und Ladenbesitzer, die daraufhin nachvollziehbarerweise bei den städtischen Verwaltungen klagen – die wiederum Künstlern und Musikern, die - wie wir - mit ihrer Musik mehr in Menschen bewegen wollen als nur die Geldbeutel, mit Maßnahmen und Regelungen das Leben schwer machen. Wenn ihr also das nächste Mal durch die Innenstadt lauft, versucht euch ein Bild zu machen, welche Art Musikant da gerade vor euch etwas zum Besten gibt und urteilt selbst.
** Wo wir zum einen mit dem „Oh ich hab was fallengelassen“-Trickbetrug überrascht werden (Hachja, gehört wohl einfach dazu :D) aber auch zum Abendessen eingeladen werden. Hiervon erzählt jedoch ein anderer
➼ Blogeintrag.
Schon ein verrücktes Aufeinandertreffen der Kulturen: Auch in Izmir gibt es sie, die Trommler. Anders als in Istanbul haben sich hier jedoch gleich zweimal welche von ihnen zu uns gestellt, um diesmal
MIT uns Musik zu machen. Im ersten Fall ein Einwohner, der sich auf unsere Einladung hin aus dem Publikum heraus zu uns gesellt und mit seinem Instrument ein spannend perkussives Element zu ‚Gimme Hope Joanna‘ hinzufügt. Dabei klebt sein Blick an mir und meiner Gitarre, damit er mit dem ihm unbekannten Musikstück so gut es geht mitgehen kann. In ruhigen Passagen wird er leiser und langsamer, beim Refrain gibt er alles und man kann gar nicht anders, als energetisch mitzuwippen. Ich bin begeistert und man merkt, wie sehr sich der Musiker auf uns einstellt, Musik zur internationalen Sprache und Verständigung wird und wir uns zwischen Trommeln und dem rhythmischen Akkordpattern der Gitarre mal lauter, mal leiser die Klinke in die Hand geben…
Nach dem Stück verabschiedet er sich, wir wünschen uns gegenseitig alles Gute und werden prompt auf zwei weitere türkische Musiker, einer davon ebenfalls mit Trommel, aufmerksam. Im Gegensatz zu unserem ersten Mitspieler drängen sie sich jedoch ungefragt neben uns auf den Platz vor dem Publikum, lassen sich unter gespieltem Interesse und einem schalen Vorwand die Melodika von Anna geben und beginnen, ihre Songs zu performen, bei denen wir aber leider nicht nur melodisch, sprachlich und (mangels des abgegeben Instruments) musikalisch völlig außen vor gelassen und uneinbezogen werden, sondern schnell abgehängt, ignoriert und sichtlich mehr und mehr aus dem Fokus gedrängt sind. Nach wenigen Takten ist klar: Das gemeinsame Musizieren stand hier nicht im Vordergrund, sondern die geschickt höflich-dreiste Übernahme des belebten Publikums-Spots für die eigene Bühne. Als dann noch die kleine Tochter widerwillig zum Tanzen nach vorne geschickt wird, muss ich mir eingestehen, dass wir vielleicht einfach mehr Spaß daran haben würden, jetzt vielleicht unser Set abzubrechen und lieber noch ein Bierchen zu trinken, anstatt sich auf einen musikalischen Zweikampf einzulassen, bei dem wir mangels türkischer Sprachkenntnisse und leiserer Instrumente wohl eindeutig den Kürzeren ziehen würden.
Das gibt es also auch: Ein öffentlichkeitswirksames Verdrängen und die dreist-unverschämte Spotübernahme durch zwei weitere Trommler, die schamlos übernehmen. Ich fühle mich gegängelt und werde daran erinnert, wer hier auf dem kleinen Platz kurz vor dem wuselig-belebten Markt eindeutig sein Heimspiel spielt.
Nichtsdestotrotz geben wir uns auch in einer weiteren Stadt erneut die Bühne: Die kleine Stadt Çanakkale, berühmt für seine Lage an den Dardanellen und das nahegelegene Troja. Wir platzieren uns in einer engen Einkaufsstraße und legen los. Schon während des zweiten Stücks tritt jemand aus dem naheliegenden Coffeeshop auf uns zu. Der Besitzer hatte seinen schüchternen, englischsprachigen Kumpel vorgeschickt, um uns einzuladen, unseren Spot 20 Meter die Straße herauf zu verlegen, direkt vor das Café dort.
Der vorsichtigen Nachfrage kommen wir natürlich sogleich nach und bauen uns zwischen den Stühlen des Cafés auf. Wir bekommen Kaffee und Wasser auf den Tisch gestellt, die umliegenden Ladenbesitzer kommen aus ihren Geschäften, um uns zuzuhören und schon zwei Songs später singt der Besitzer enthusiastisch bei ‚Mercedes Benz‘ mit, sichtlich begeistert davon, ein Stück aus unserem Repertoire wiederzuerkennen. Ich fühle mich wahnsinnig gut aufgehoben, genieße die Gastlichkeit, das Interesse an unserem Wirken. Die Werbetrommel funktioniert, eine Gästin setzt sich extra in das Cafe, um uns zuzuhören und bringt uns unentwegt kleine Snacks, Erdbeeren und frisches Wasser...
Auf der anderen Straßenseite gesellt sich ein währenddessen ein anderer Musiker zu den Zuhörern, in der Hand eine bağlama, die typische 3-saitige Gitarre und hört gebannt bis zum letzten Ton zu. Wir geraten in eine freundschaftliche Fachsimpelei über unsere musikalischen Herkünfte und selbstredend probiere ich mich auch einmal an dem Instrument, nachdem wir fertig sind.
Er ist begeistert, dass wir ihm anschließend den Spot überlassen und kurz bevor wir gehen, wollen dann auch noch ein paar herbeigelaufene Kinder, die uns vorher noch zugehört hatten, die Gitarre ausprobieren. Wir sind das Zentrum der Aufmerksamkeit und von allen Seiten brandet uns Wohlwollen und Freundlichkeit entgegen.
Wow, das ist Straßenmusik, wie ich es mir vorgestellt habe, das ist Straßenmusik, die erfüllt und die alle negativen Erfahrungen in den Schatten stellt, das ist die Straßenmusik, für die ich aufgebrochen bin.
Zufrieden schlendern wir zurück zu Rusty und brechen an diesem Tag zu unserem letzten Stop in der Türkei auf, bevor wir dann das Land wieder verlassen…
Aber das ist eine andere Geschichte.
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